Ein langer Weg der halben Schritte

Von Antje Krüger · · 2005/03

Am 15. März vor 15 Jahren kehrte Chile mit dem Amtsantritt von Präsident Aylwin zur Demokratie zurück. Und zum Jahresende wird zum vierten Mal seit dem Ende der Diktatur ein Präsident gewählt – der erstmals eine Frau sein könnte. Das Erbe der Diktatur spaltet jedoch nach wie vor die Gesellschaft. Aus Chile berichtet Antje Krüger.

Laut aufheulend jagt der Bus Nummer 49 die Alameda entlang, bremst scharf vor dem Hügel Santa Lucía, spuckt Menschenmassen vor der Fußgängermeile Ahumada aus und schlängelt sich durch den dichten Verkehr zum Präsidentenpalast La Moneda durch. Der weite Platz davor strahlt Ruhe aus – ein angenehmer Kontrast nach dem hektischen Gedränge auf Santiagos Hauptverkehrsader. Einsam steht das Denkmal für Salvador Allende. Auf dem Sockel die letzten Worte, die der Staatschef an jenem 11. September 1973 sprach, bevor die Moneda in Flammen aufging: „Ich glaube an Chile und an seine Zukunft.“ Der Tote, zum Denkmal geworden, steht noch immer dem Lebenden, seinem Widersacher und nicht weniger Sinnbild, dem pensionierten General und Diktator Augusto Pinochet, gegenüber. Beide verkörpern wie niemand anderer sonst in Chile die lange und steinige Suche nach historischer Wahrheit und das Ringen um eine Demokratie, die noch immer von den Schatten der Vergangenheit belastet wird.
An Augusto Pinochet, Chiles Diktator von 1973 bis 1990, entlädt sich der erbitterte Streit um Chiles Geschichte; an ihm misst sich auch die Qualität der neuen Demokratie. Gegen ihn laufen derzeit verschiedene Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen und illegaler Bereicherung. Doch der 89-jährige Greis hat das Land derart stark geprägt, dass er noch immer den Weg mit vorgibt, den Chile bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit geht. Bislang weitgehend ein Weg moralischer Bekenntnisse ohne ernsthafte rechtliche Konsequenzen. Ein Weg der Kompromisse mit denjenigen, die 17 Jahre lang Terror ausübten. Ein Weg voller Tabus, die nun, so scheint es, schrittweise gebrochen werden.

Im November 2004 konfrontierte der Bericht der Kommission für politische Haft und Folter Chile mit aller Wucht mit der schrecklichsten Zeit seiner Geschichte. 35.000 ehemalige politische Gefangene hatten darin Zeugnis über ihre Hafterfahrungen in der Diktatur abgelegt. Zeugnisse, die sich wie eine Enzyklopädie des Horrors lesen und beweisen, dass Folter und Erniedrigung systematisch eingesetzt wurden. „Ich wurde in eine Zelle geführt, in der es stark nach Blut roch. Sie rissen mir die Kleider runter und banden mich auf einem Tisch fest. Dann gaben sie mir Stromstöße in die Vagina, die Brüste und die Knie. Später sagte mir ein Unteroffizier, er hoffe, dass dies nie seiner Tochter passieren würde, sollte sich der Spieß einmal umdrehen“, erinnert sich eine damals noch minderjährige Frau. Der auch im Internet veröffentlichte Bericht brach mit einem Tabu. Dass während der Diktatur gefoltert wurde, wusste jeder. Doch war bisher immer nur von den rund 3.000 Ermordeten und Verschwundenen die Rede – diese Tatsache ließ sich schwer leugnen. Die Folteropfer jedoch lebten ohne erkennbare äußere Wunden weiter und blieben aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt. Ihr Schicksal zeigt, wie wenig die ChilenInnen bislang bereit und fähig waren, den Blick zurück mit offenen Augen zu wagen und die Konsequenzen zu tragen. Auch 15 Jahre nach Ende der Diktatur leben Henker und Opfer noch nebeneinander, als wäre nichts geschehen.

Dass die Folteropfer überhaupt eine Stimme erhielten, schien vor einem Jahr noch undenkbar. Zu groß war die Angst vor dem endgültigen Bruch mit den alten Machthabern, die immer noch stark die Politik und das Meinungsbild beeinflussen. So sprechen sich im Forum der Tageszeitung „El Mercurio“ gut drei Viertel der LeserInnen mit heftigen Worten gegen die Anklagen gegen Pinochet aus. Die Beiträge lesen sich wie Versatzstücke aus dem Kalten Krieg. „Wie können sie es wagen, den Retter unserer Heimat, Don Augusto Pinochet, zu verhaften!“ heißt es da. Oder: „Das ist ja die Höhe. Für Allende, der das Land in den Abgrund trieb, stellen sie ein Denkmal vor der Moneda auf und denjenigen, der uns zu Frieden und Fortschritt führte, richten und foltern sie auf dem Krankenbett.“
Doch wenn sich Chile nicht voll und ganz seiner Vergangenheit stellt, wird die Demokratie ein Krüppel bleiben. Das Land lebt noch heute mit der Verfassung, die Pinochet 1980 verabschiedete, sowie der Selbstamnestierung der Militärs. „Solange die Verfassung und die Amnestie noch gelten, kann von einer wirklichen Demokratie keine Rede sein. Wir befinden uns noch immer im Übergang und kämpfen mit vielen Fallstricken aus der Diktatur. Die Verfassung sichert der Rechten eine automatische Mehrheit durch die Benennung von Senatoren zu, sodass viele Gesetzesänderungen gar nicht durchkommen“, urteilt Viviana Diaz, Präsidentin der Vereinigung von Angehörigen verschwundener Häftlinge (AFDD).
Es ist dieser lange Arm der Diktatur, der die ChilenInnen bei der Aufarbeitung der Vergangenheit immer nur zwei kleine Schritte vor und schnell wieder einen zurück gehen lässt. Auch beim Folterbericht werden strafrechtliche Konsequenzen verhindert: Die Identitäten der Folterer, die der Kommission vorliegen, sollen fünfzig Jahre geheim gehalten werden. Damit sind Opfern und Richtern die Hände gebunden. Nach Ablauf der Frist aber wird von den Tätern kaum noch einer am Leben sein.

Im Dezember wird zum vierten Mal nach dem Ende der Diktatur ein Präsident frei gewählt. Und wie es derzeit aussieht, hat eine Sozialistin die größten Chancen. Michelle Bachelet, bis zu ihrer Kandidatur Verteidigungsministerin, liegt laut Umfragen bislang vorn. Noch ist sie nicht die offizielle Kandidatin des regierenden Mitte-Links-Bündnisses aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten. Doch ist ihre interne Wahl mehr als wahrscheinlich. Sie, deren Vater, General Bachelet, während der Diktatur zu Tode gefoltert wurde und die selbst Gefängnis und Exil erfahren hat, wird gegen Joaquin Lavín von der rechten „Allianz für Chile“ antreten. Lavín, im Jahr 2000 zum Bürgermeister von Santiago de Chile gewählt und langjähriges Mitglied des Opus Dei, gilt trotz seiner Niederlage bei den letzten Präsidentschaftswahlen als der absolute Führer dieser Koalition aus der Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) und der Nationalen Erneuerung (RN).
Beide, Bachelet wie Lavín, verkörpern diejenigen Extreme der chilenischen Gesellschaft, die das Land seit über 30 Jahren spalten – die Sozialisten auf der einen Seite und die UDI mit ihrer Unterstützung Pinochets auf der anderen. Doch die Umfrageergebnisse zu Gunsten von Michelle Bachelet sprechen für eine langsame innere Aussöhnung.
Vor fünf Jahren noch hatte die Kandidatur des Sozialisten Ricardo Lagos, dem heutigen Präsidenten, alte Grabenkämpfe wieder aufflammen lassen. Vor einer zweiten Ära Allende wurde gewarnt, vor Verstaatlichung und Sozialismus. Dass Lagos schließlich gegen den Rechtskandidaten Lavín gewann, wenn auch nur knapp und in einer Stichwahl, zeigt, dass ideologische Gespenster langsam verblassen. Heute beurteilen knapp 60% der Bevölkerung die Regierungszeit von Ricardo Lagos als positiv. Sie rechnen ihm unter anderem an, die drohende Wirtschaftskrise abgewendet zu haben, und sogar 74% begrüßen die Veröffentlichung des Folterberichts als einen notwendigen moralischen Schritt, der selbst die Militärs zu Schuldbekenntnissen zwang.

Das Jahr 2005 war gerade vier Tage alt, als sich eine fundamentale Veränderung im Verhalten der Justiz zu den Verbrechen der Diktatur ankündigte: Pinochet wurde endgültig für prozessfähig erklärt. „Das ist ein Rückschritt aus Sicht der Menschenrechte, eine Verletzung unserer Verfassung“, ereiferte sich Pablo Rodríguez, Pinochets Anwalt, während draußen, vor dem Obersten Gerichtshof, die Angehörigen der KlägerInnen jubelten, sich in die Arme fielen, Fotos ihrer verlorenen Eltern, Geschwister, Ehegatten schwenkten.
Seine angebliche Altersdemenz, Hauptargument der Verteidigung, das über Jahre alle Anklagen abprallen ließ, schützt den Ex-Diktator nun nicht mehr vor strafrechtlicher Verfolgung.
Gegen Pinochet laufen derzeit mehrere Ermittlungen und Verfahren: zur Operation Cóndor, die in ganz Südamerika die Verfolgung Oppositioneller koordinierte, zum Mord an General Prats, dem Ex-Kommandanten der chilenischen Armee unter Salvador Allende und zu den Riggs-Bank-Konten in den USA. Hier wird gegen Pinochet wegen illegitimer Bereicherung während der Diktatur sowie Steuerhinterziehung in Höhe von ca. 16 Millionen Dollar ermittelt. Die Nachforschungen wurden inzwischen auf elf amerikanische und europäische Städte, u.a. Madrid, London, Zürich, New York, Oklahoma, Miami sowie auf die Bahamas und Familienangehörige von Pinochet ausgeweitet, deren Vermögenswerte ebenso wie jene Pinochets eingefroren wurden.
Vier falsche Pässe wurden bei einer Durchsuchung von Pinochets Büro gefunden, illegaler Waffenhandel vermutet. Dieses Thema ist für seine Anhängerschaft besonders brisant und schmerzhaft: Das Image des patriotischen Saubermannes, das Pinochet jahrzehntelang pflegte und mit dem er sich von anderen korrupten Diktatoren abgrenzen wollte, ist wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen.

Insgesamt sind bis jetzt 356 Anklagen wegen Menschenrechtsverletzungen in der Diktatur erhoben worden. Erste Durchbrüche sind bereits zu verzeichnen. So verbüßt die Führungsriege des ehemaligen Geheimdienstes DINA seit Februar verschiedene Haftstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren wegen des Verschwindens des politischen Gefangenen Miguel Angel Sandoval Rodríguez 1975. Doch kaum sind die Prozesse in Gang, wird schon wieder die Bremse gezogen. Das Oberste Gericht hat jetzt eine Frist von sechs Monaten festgelegt, in denen die Voruntersuchungen bei Verfahren zur Diktatur abgeschlossen sein müssen. „Wir hoffen, dass die Prozesse jetzt nicht durch die Frist verhindert werden. Die Frist wäre kein Problem, wenn die Gerichte schon zur Zeit der Diktatur ihrer eigentlichen Aufgabe nachgekommen und Menschenrechtsverletzungen verfolgt hätten. So aber fangen die Ermittlungen überhaupt erst an und dafür kann eine Beschränkung auf ein halbes Jahr fatale Folgen haben“, sagt Viviana Diaz von der AFDD und fügt hinzu: „Trotzdem sind wir zufrieden, dass unser Kampf endlich Ergebnisse bringt. Sie zeigen: wenn es einen Willen in der Justiz gibt, ist Gerechtigkeit auch möglich.“ Ein Wille, der heute in Chile ein klarer Ausdruck für ein Reifen der Demokratie ist, für einen großen Schritt vorwärts 15 Jahre nach dem Ende der Diktatur.

Antje Krüger lebt als freie Journalistin in Berlin und befindet sich derzeit gerade auf Recherchereise in Chile und Argentinien.

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